Benno Plassmann sprach für Echolot mit Martin Heger, Professor für Europäisches Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
In Italien gibt es ein Gesetz, mit dem Immobilien von Mitgliedern der Mafien eingezogen werden können. Diese Immobilien werden der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt. Die Idee dahinter: Mafien entziehen der Gesellschaft Geld und zerstören die demokratische Kultur vor Ort. Mit der Übergabe der Immobilien an gemeinnützige Organisationen soll dem entgegengewirkt und ein Ausgleich geschaffen werden.
echolot: setzte sich 2014 – 2017 im EU-Projekt „Creating public spaces – best practice in the re-use of confiscated assets“ (www.creatingpublicspaces.org) mit dem Transfer dieser italienischen Praxis nach Deutschland auseinander. Neben weiteren zivilgesellschaftlichen Initiativen waren an dem Projekt Akteur*innen der öffentlichen Verwaltung und der Wissenschaft aus Italien und Deutschland beteiligt. Dazu zählt Prof. Dr. Martin Heger mit seinem Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Europäisches Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Herbst 2017 erstellte Heger eine Stellungnahme zum „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“ für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Benno Plassmann sprach mit ihm über territoriale Dominanz, italienische Vorbilder und mangelnde juristische Handhabe in Deutschland.
echolot: Was haben Sie aus dem EU-Projekt „Creating public spaces“ inhaltlich mitgenommen?
Martin Heger: Während des Projektes wurde mir sehr deutlich, dass kriminelle Vereinigungen nach Art der Mafia einen faktischen Gebietsbeherrschungsanspruch haben und dass sie einschüchtern durch ganz konkrete Stützpunkte in ihrem „Heimat-Territorium“. Dort zeigen sich Straftaten nach Art der Mafia gerade darin, dass nicht bloß inkriminierte Handlungen in organisierter Form begangen werden, sondern dass diese auch dazu dienen, faktisch Kontrolle über Gebiete oder andere Lebensräume auszuüben. Die Villa des Bosses eines Mafia-Clans inmitten eines von mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK) dominierten Stadtviertels dient nicht nur der Vorbereitung krimineller Aktionen hinter verschlossenen Türen, der Lagerung von Beute, Drogen oder was auch immer im Keller sowie als Rückzugsraum für Kriminelle. Im Gegenteil: Sie soll gegenüber der umliegenden Bevölkerung öffentlich sichtbar den Anspruch manifestieren, dass der darin Wohnende ein hohes Tier der Mafia ist und dass man sich ihm zu fügen, sich mit ihm gutzustellen hat – dass man jedenfalls nicht mit ihm in Konflikt geraten sollte.
Im Fachaustausch mit den beteiligten Kolleginnen und Kollegen habe ich gelernt, dass in Italien schon vor Jahrzehnten die Praxis entwickelt wurde, dass ein solches Haus nach der Vermögenseinziehung einen sozialen und symbolischen Gegenpunkt setzen kann und soll. Wenn örtliche zivilgesellschaftliche Initiativen dort eine Gedenkstätte für die Opfer der Mafia einrichten oder ein Haus der Demokratie mit Angeboten für Jugendliche schaffen, dann wird es tatsächlich zu einem Stützpunkt zivilgesellschaftlicher Arbeit gegen kriminelle Vereinigungen. Findet sich kein zivilgesellschaftlicher Träger, kann auch der Staat das Haus für seine Zwecke und damit im öffentlichen Interesse nutzen; so kann aus einem vormaligen Mafia-Haus auch ein örtlicher Polizeiposten werden. Ich begrüße es sehr, dass das Abgeordnetenhaus von Berlin kürzlich eine Vorgabe für eine entsprechende Verwendung eingezogener Immobilien verabschiedet hat.
echolot: Denken Sie denn, dass es solche oder ähnliche mafiöse Strukturen, inklusive des Gebietsbeherrschungsanspruches, auch in Deutschland gibt?
Martin Heger: Davon ist auszugehen – allein wenn wir an die klassischen italienischen mOK-Strukturen Camorra, Cosa Nostra, ’Ndrangheta denken. Nach Berichten der Sicherheitsorgane sind sie seit den 1970er Jahren auch in Deutschland aktiv, worüber zum Teil auch in den Medien berichtet wurde. Manches nach der Wiedervereinigung in Berlin oder in den ostdeutschen Bundesländern betriebene Bauvorhaben soll mit deren Mafia-Geld finanziert worden sein. Wahrgenommen wurden solche Investments in Betongold zunächst freilich nicht als Geldwäsche, geschweige denn als mafiöse territoriale Verankerung, sondern als „Aufbau Ost“ mittels ausländischen Kapitals.
Bisher habe ich nur von kriminellen Vereinigungen gesprochen, die ursprünglich in Italien beheimatet waren. – Dabei sind viele verschiedene Gruppen mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK) hier in Deutschland sehr heimisch geworden im Laufe der Jahrzehnte. Ich denke, dass wir als Gesellschaft viel zu lange die Augen verschlossen haben vor ziemlich offenkundigen mOK-Phänomenen – nicht unähnlich übrigens dem Umgang mit Phänomenen des Rechtsterrorismus wie dem NSU, den Ermittlerinnen und Ermittler jahrelang einfach nicht wahrhaben wollten.
echolot: Halten Sie vor diesem Hintergrund das strafrechtliche Instrumentarium, das das deutsche Strafgesetzbuch gegen kriminelle Vereinigungen bereithält, für angemessen?
Martin Heger: Wie gesagt ist auch der breiten Öffentlichkeit inzwischen bewusst, dass Deutschland nicht bloß Rückzugsort oder gar Kurort altersschwacher ausländischer Mafiosi ist, sondern eben auch Tatort, ja Drehscheibe vielfacher krimineller Handlungen: von Schutzgelderpressung über Geldwäsche bis hin zu Morden. Wir müssen uns Ihrer Frage also vor diesem Hintergrund annähern.
Erst im Jahr 2002 wurde mit dem Paragrafen 129b Strafgesetzbuch (StGB) ein Instrumentarium dafür geschaffen, Personen aus ausländischen kriminellen Vereinigungen, die keinen inländischen Ableger haben, überhaupt zu verfolgen. Nun kann man sie nach deutschem Recht anklagen.
Im Jahr 2017 trieb der Gesetzgeber parallel zur Reform der Vermögensabschöpfung auch eine Reform der Paragrafen 129, 129a Strafgesetzbuch (StGB) voran; dabei ging es allerdings weniger um eine Erfassung spezifisch mafiöser Tätigkeiten als vielmehr darum, die durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aufgerissenen europarechtswidrigen Lücken beim Paragrafen 129 StGB zu schließen. Mit der nun gültigen neuen Version des Paragrafen werden Phänomene, wie wir sie aus mOK-Strukturen kennen, besser erfasst. Gemeint sind typische Abläufe, bei denen von oben herab Befehle durch die Führungsriege an die nächste Ebene etc. bis zu den letztlich die Straftaten ausführenden „kleinen Lichtlein“ gegeben werden – wobei der unmittelbare Täter häufig nur seinen unmittelbaren Vorgesetzten, nicht aber andere Mitglieder seiner mOK-Gruppe kennt.
Leider lehnte es der Gesetzgeber ab, das Erstreben eines Vermögensvorteils bei der Reform des Paragrafen 129 StGB mit einzubeziehen. Die damals geäußerte Einschätzung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière, dass Deutschland nun gut für den Kampf gegen mafiöse Organisierte Kriminalität (mOK) gerüstet sei, teile ich vor diesem Hintergrund nicht.
echolot: Braucht Deutschland also einen eigenen Tatbestand für mafiaartige kriminelle Vereinigungen nach italienischem Vorbild?
Martin Heger: In Italien wurde zur Bekämpfung der Mafia bereits 1982 mit dem „Articolo 416 bis“, Codice penale, eine Strafnorm geschaffen, welche ausdrücklich Straftaten nach Art der Mafia adressiert. Eine kriminelle Vereinigung nach Art der Mafia liegt demnach vor, wenn ihre Mitglieder Dritte allein aufgrund der Macht der Vereinigung, die soziale Dominanz und ein gesellschaftliches Wegschauen (Omertà) zur Folge haben, einschüchtern.
Die Idee eines eigenen Anti-Mafia-Tatbestandes auch im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) kam mir beim Nachdenken über die sozialräumlichen Zusammenhänge von Phänomenen mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK). Die Mafia wirkt nach außen, in die Gesellschaft, vor allem dadurch, dass sie gestützt auf ihre internen Strukturen ihr Umfeld einschüchtern kann; daraus kann die Vereinigung unberechtigte Gewinne etc. erzielen. Wesentlich ist also die Einschüchterung der Umgebung. Sinnbildlicher Ausdruck der Einschüchterung der Nachbarschaft – wie auch der Kontrolle über Geschäfte aller Art sowie des massiven Einflusses auf die öffentliche Hand – ist nicht selten ein prunkvolles Anwesen der Familie des örtlichen Mafia-Bosses.
Auch hierzulande existieren organisiert-kriminelle Strukturen, deren Beteiligte sich nicht im Verborgenen um ihre kriminellen Aktivitäten kümmern, sondern in bestimmten Räumen ihre Dominanz „in Räuberzivil“ vorführen, Jugendliche zur Mitarbeit verführen und Andersdenkende einschüchtern. Neben den als solche erkennbaren Mafien ausländischen Ursprungs möchte ich als Beispiele nennen: Rockerbanden, die auf dem Motorrad in Gruppen oder als Türsteher ihre Claims abstecken; Menschenhändlerringe im Rotlichtmilieu; Großfamilien, deren kriminelle Mitglieder bestimmte Kieze deutscher Großstädte dominieren; rechtsextreme Bruderschaften, die auf martialische Art Angst und Schrecken verbreiten. Wie auch bei den Mafiosi stellen die Täterinnen und Täter den jeweiligen Ertrag ihrer Kriminalität offen zur Schau und dokumentieren durch ihr Auftreten zugleich eine Monopolposition für kriminelle Handlungen. Widersacher werden teils relativ offen attackiert.
Die Staatsmacht erweckt vielfach den Eindruck, solchen Umtrieben nicht Herr zu werden, sie wird offenkundig durch kriminell motivierte Gruppen herausgefordert. Sein Gewaltmonopol wird der Staat mittel- und langfristig übrigens nur im Zusammenspiel mit einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft verteidigen können.
Wir sollten einen speziellen Tatbestand einführen, der mOK-Strukturen und andere schwerwiegende kriminelle Vereinigungen, die durch Einschüchterung öffentlich Dominanz ausüben, erfasst.
echolot: Was schlagen Sie konkret vor?
Martin Heger: Technisch denkbar wäre eine Ergänzung der Paragrafen 129 ff. Strafgesetzbuch (StGB) durch einen neuen Tatbestand der „mafiösen oder schwerkriminell-staatsgefährdenden Vereinigung“, etwa als neuer Paragraf 129c StGB. Im Austausch mit italienischen Strafrechtspraktikern wurde diese Möglichkeit bereits intensiv diskutiert.
Eine stärkere Differenzierung der Organisationsdelikte wäre auch deswegen naheliegend, da man in der Folge bei einfachen Fällen den Strafrahmen des Paragrafen 129 StGB weiter mildern sowie das prozessuale Arsenal im Vorfeld der Tatbegehung einschränken könnte. Dies käme der Kritik an den Paragrafen 129, 129a StGB entgegen, die seit jeher bemängelt, dass das strafprozessuale Instrumentarium allein wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer entsprechenden Vereinigung eröffnet ist. Bei der Reform 2017 schrieb der Gesetzgeber de facto für den Kreis der möglichen Taten einer kriminellen Vereinigung im Sinne des Paragrafen den Status quo fort; einer extensiven Auslegung in der Rechtsprechung wurde damit keineswegs ein Riegel vorgeschoben.
Zugleich würde eine differenziertere Betrachtung der Organisationsdelikte über terroristische Vereinigungen hinaus es ermöglichen, für die Gesellschaft ähnlich gefährliche Verhaltensweisen mafiöser und anderer Strukturen mit einem härteren prozessualen Arsenal zu verfolgen und schlussendlich auch schärfer zu bestrafen.
Bei einer erneuten und grundlegenden Reform der Paragrafen 129 ff. StGB könnte man einen zweiten Qualifikationstatbestand neben der terroristischen Vereinigung schaffen. Hier könnte man erstens, in Anlehnung an die Struktur des Paragrafen 129a StGB, einen Katalog typischer schwerwiegender Taten mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK) aufführen: Erpressung, Geldwäsche etc. Zweitens könnte man für die Klassifizierung als Vereinigung verlangen, dass sie darauf zielt, durch ihr Auftreten an einem bestimmten Ort Teile der ansässigen Bevölkerung einzuschüchtern (neben den heute in Paragraf 129 Abs. 2 StGB enthaltenen Merkmalen). Ich gebe zu, das klingt in Sachen Bestimmtheitsgebot nicht sehr scharf – doch schließlich geht es hierbei nur um eine Einschränkung einer ohnehin bereits bestehenden Strafbarkeit wegen Paragraf 129 StGB.