Die sizilianische Journalistin Ambra Montanari skizziert in ihrem Text die neuen Möglichkeiten mafiöser Verwurzelung in Ostdeutschland, die nach 1989 entstanden.
Ambra Montanari
Die deutsche Einheit vor dreißig Jahren wurde nicht nur von den Deutschen gefeiert: Für die aus Italien stammenden Mafien bedeutete der Zugang zu den neuen Ländern die Möglichkeit, riesige Geldbeträge zu investieren und Geldwäsche zu betreiben. Der Westen, die Marktwirtschaft stellten für sehr viele ein Versprechen von Wohlstand dar, auf das die Cosa Nostra, die Camorra und die ’Ndrangheta bauen konnten. Aus Abhörprotokollen der Staatsanwaltschaft Palermo geht hervor, dass noch am Abend des 9. November ein sizilianischer Boss seinen Ansprechpartner in Westdeutschland angerufen und gesagt haben soll: „Geh nach Berlin – kaufen, kaufen, kaufen.“ Der Osten war offen und die Mafien wollten ein großes Stück davon. „Sie kamen mit Aktentaschen voller Geld“, erinnert sich Bernd Finger im Interview. Finger war 1990 Verbindungsperson der westdeutschen Polizei bei der DDR-Volkspolizei in Berlin, heute ist er im Ruhestand. Weiter erklärt er: „Die Treuhand-Mitarbeiter sahen diese Leute damals kommen und wussten nicht, was sie tun sollten. Sie waren nicht vorbereitet und wussten nicht, was die Mafia war.“
Kontext: die Treuhand
Der vormalige Staatsbesitz der DDR wurde ab 1990 von der neu gegründeten Treuhandgesellschaft privatisiert. In einem Interview mit der FAZ vom 21.07.2019 beschreibt Brigitte Breuel, die zweite Leiterin der Treuhand, die Ausgangssituation: „Es gab fast keine Zeit zum Nachdenken. Wir haben buchstäblich bei Null angefangen [...]. Wir hatten nicht genügend Stühle in den Büros und keine Telefone. Zu Beginn der Arbeiten liefen wir zur öffentlichen Telefonzelle am Brandenburger Tor. Am 1. Juli 1990 trat die Währungsunion in Kraft. Unternehmen mussten ihre Löhne in D-Mark bezahlen, was sie sich nicht leisten konnten. Jeden Morgen ab sechs fragten uns die Geschäftsführer der Unternehmen, wie wir vorgehen sollen. Vor allem brauchten sie Geld.“ Von den 14 000 größeren Unternehmen der Treuhand waren Ende 1994 noch 60 übrig. Die gesellschaftlichen Kosten dieser Privatisierungen und der auf die Deutsche Einheit folgenden Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern waren enorm.
Im Laufe der Jahre wurde der Treuhand vieles vorgeworfen, nicht zuletzt zahlreiche Korruptionsskandale. Brigitte Breuel kontextualisiert Letzteres rückblickend folgendermaßen: „Vieles war einfach nicht vermeidbar, wenn Sie mit Tausenden von Unternehmen zusammenarbeiten. Wenn Sie sich die gleiche Anzahl von Unternehmen in Westdeutschland ansehen, finden Sie dort auch Beispiele für Korruption“ (FAZ).
Aus technischen Gründen war es vielerorts notwendig, dass ehemaliges Leitungspersonal aus SED und Stasi auf wichtigen Posten der Treuhand weiterarbeitete. Dies gilt es bei der Annäherung an die Thematik mafiöser Präsenz in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft als wichtiges Detail im Auge zu behalten. Denn langanhaltende Aktivitäten bei der Stasi und eine entsprechende gesellschaftliche Sozialisierung dürften jenen Mangel an demokratischer Kultur und jene Haltung des Wegschauens begünstigt haben, von der mafiöse Aktivitäten profitierten – nach dem alten Mafia-Motto Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts.
Der Mauerfall als Chance für mafiöse Deals
In Italien ist bekannt, dass die Mafien ausgesprochen gern in Notfallsituationen agieren. Dies war klar erkennbar nach der Finanzkrise 2008, nach dem Erdbeben von L’Aquila im Jahr 2009 und ebenso nach jenem in der Emilia im Jahr 2012. Im Jahr 2015 kam es im Rahmen der Ermittlungen „Aemilia“ zu einigen Festnahmen; italienische Medien zitierten damals aus staatsanwaltlichen Abhörprotokollen zwischen mutmaßlichen Mafiosi: „Wir müssen meiner Meinung nach zehn Jahre lang dorthin gehen, für die nächsten zehn Jahre wird es für ganz Italien Bauarbeiten geben ... Scheiße, wie viele Trümmer ... Trümmerhaufen.“ Während also noch Tote aus eingestürzten Gebäuden geborgen wurden, witterten Mafiosi bereits einen großen Deal. Vergleichbar vielversprechend und reich an potenziellen Deals nahm sich aus Sicht italienischer Mafiosi die Situation in Deutschland am Morgen des 10. November 1989 aus. Für die Mafiosi der Cosa Nostra, der ’Ndrangheta und der Camorra wurde Deutschland zu einem gelobten Land. Nicht nur war es reich, auch war die Gesetzeslage sehr anders als in Italien: Mafiöse Organisierte Kriminalität (mOK) wurde und wird vom § 129 im deutschen Strafgesetzbuch kaum erfasst, Geldwäsche-Tatbestände waren im damaligen juristischen Sinne kaum gegeben, die Beschlagnahmung von Vermögenswerten war wegen komplizierter Verfahren so gut wie unmöglich. Bernd Finger fasst die damalige Situation, mit ihren großen Transaktionen und Investitionen nach dem Fall der Mauer, im Interview so zusammen: „Das BKA konnte nichts unternehmen. Die Verdächtigen blieben Verdächtige, es gab keine Grundlage für die Einleitung von Ermittlungen, was geschah, war nicht illegal und niemand wusste genau, was die Mafia war.“ In den ersten beiden Jahren nach 1990 brachten Investitionen aus dem Ausland der Treuhand über 9 Mrd. DM ein. In der offiziellen Statistik tauchte Italien als Herkunftsland nur wenig auf, da viele der investierenden Unternehmen mit Verbindungen nach Italien ihren Sitz in Westdeutschland hatten.
Mafiavorwürfe und Ermittlungen in den frühen ‘90ern: Beispiele
In der bundesweiten Öffentlichkeit wurden mögliche Verwicklungen italienischer mOK-Gruppen in Ostdeutschland erstmalig größer diskutiert in Zusammenhang mit dem EKO-Stahlwerk Eisenhüttenstadt. Im April/Mai 1994 berichteten der Spiegel und andere Medien ausführlich über die Privatisierungsbemühungen der Treuhand für das vormalige Eisenhüttenkombinat Ost. Es war schwierig gewesen, es auf dem Markt attraktiv zu machen. Die Mailänder Riva Group interessierte sich dafür, nachdem sie 1991 bereits kleinere Stahlwerke in Ostdeutschland erworben hatte. Der mögliche neue Eigentümer Emilio Riva gewann die Ausschreibung, auch mit der Zusicherung, dass er immerhin 1 700 Arbeitsplätze in Eisenhüttenstadt erhalten wolle. (Die ersten Sanierungen nach dem Ende der DDR hatten bereits einen Verlust mehrerer Tausend Arbeitsplätze mit sich gebracht, von 11 000 auf 3 200.) Der Standort sollte erhalten werden, und die Stadt sprach von Investitionen, als deutsche und italienische Zeitungen die Nachricht von Rivas Einstieg im Januar 1994 verbreiteten: „Industriestandort Eisenhüttenstadt gerettet“. Vier Monate später jedoch überlegte es sich Emilio Riva anders, in letzter Minute zog er sich aus dem Geschäft zurück.
Der Historiker Marcus Böick, der zur Geschichte der Treuhand arbeitet, führt im Interview aus, dass ein Grund dafür die Berichterstattung zu mutmaßlichen Mafia-Verbindungen Rivas gewesen sein könnte: „Man hatte damit begonnen, dem neuen Investor Verbindungen zur Mafia nachzusagen. Dies hatte Proteste ausgelöst, auch wenn es keine Belege für die Behauptung gab, dass diese Italiener mit einer Mafia verbunden seien.“ Der nicht belegte mOK-Verdacht, mit dem Stimmung gemacht wurde gegen die Investitionen von Riva, steht beispielhaft für ein Grundproblem, das Deutschland beim Umgang mit mOK hat: Ohne klare Begrifflichkeiten kann dieses Wort, Mafia, leicht zur Stimmungsmache eingesetzt werden. Böicks Ansicht nach „wurde der Begriff Mafia im Kontext der Treuhand oft als allgemeiner Begriff für Korruption verwendet. Zu der Zeit war überhaupt nicht klar, was die (italienische) Mafia war, und niemand glaubte, dass es die Mafia in Deutschland gibt. Der Begriff wurde meist falsch verwendet, nur um einen zufälligerweise italienischen Investor als Mafioso zu diskreditieren.“ Der Historiker vermutet, dass EKO-Stahl für mOK-Gruppen nicht wirklich von Interesse gewesen ist: „Den damaligen Berichten nach zu urteilen betrafen Mafia-Investitionen eher kleinere und weniger sichtbare Unternehmen. EKO, eines der größten Stahlwerke in Deutschland, war zu sichtbar, um interessant zu sein.“
Zu den Investitionen der italienischen mOK-Gruppen Cosa Nostra, Camorra und ’Ndrangheta nach 1990 in den neuen Bundesländern gibt es nur Schätzungen. Der dänische Journalist Martin Burcharth zitiert in seinem Buch Mafiaen. Økonomisk kriminalitet over grænser (Mafien. Transnationale Wirtschaftskriminalität) ein Dokument des SISMI (italienischer Geheimdienst) aus dem Jahr 1992; darin werden die mafiösen Gesamtinvestitionen in den fünf neuen Bundesländern auf 72 Mrd. DM geschätzt. Nach Burcharths eigenen Recherchen ist „die Zahl aber mit Skepsis zu lesen und wahrscheinlich niedriger“. Das BKA kam im November 2008 bei einer internen Analyse zur Präsenz der ’Ndrangheta in Deutschland jedenfalls zu dem Schluss, dass die verschiedenen italienischen mOK-Gruppen in Deutschland eng zusammenarbeiten und dass „bezogen auf das Investitionsverhalten [...] die Hinweise immer deutlicher [werden], dass in Deutschland Investitionen in großer Höhe vorgenommen werden“.
Es gibt einige beschreibbare Fälle des Zusammenspiels italienischer Investitionen und deutscher Bürokrat*innen während der Zeit der Treuhand-Privatisierungen, bei denen mafiöse Verbindungen vermutet werden können. Die Aktivitäten von Alberto Lino Vulcano in Sachsen-Anhalt Anfang der 1990er Jahre sollen hier als Beispiel dienen. Auf dessen Spur kamen die deutschen Ermittlungsbehörden bei der Durchsicht von Unterlagen im Grundbuchamt von Magdeburg. Eine dortige Mitarbeiterin erledigte ihre Arbeit manchmal auffallend schnell, hinzu kamen persönliche Ausgaben zur Weihnachtszeit 1991, die sich die betreffende Mitarbeiterin mit ihrem mäßigen Gehalt eigentlich kaum hätte leisten können. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass bei ihr zur Beschleunigung bürokratischer Prozesse offenbar Schmiergelder zwischen 300 und 2 000 DM erforderlich waren. Wie die taz im April 1992 in dem Artikel Der schnelle Schein über Bestechung in Magdeburg berichtete, wurde die besagte Mitarbeiterin zusammen mit einem lokalen Notar festgenommen.
Aus den Unterlagen der Festgenommenen gingen Verbindungen zum in Stuttgart ansässigen Geschäftsmann Alberto Lino Vulcano hervor. Dieser hatte laut Spiegel vom 23.03.1992 mit Unterstützung des lokalen Treuhand-Direktors Andreas Grünebaum besonders lukrative Geschäfte tätigen können, und seine Grundstückskäufe gehörten zu eben jenen, die sofort nach Kaufabschluss im Grundbuch eingetragen worden waren. Vulcano war Italiener und lebte seit Ende der 1970er Jahre in Stuttgart. Ermittlungen ergaben, dass er den lokalen Treuhand-Direktor Grünebaum, der von Osnabrück nach Magdeburg gekommen war, über einen längeren Zeitraum mit 9 000 DM pro Monat bestochen haben soll – insgesamt waren wohl 200 000 DM geflossen. Das Bestechungsgeld soll dazu gedient haben, den Kauf einer Anzahl von Firmen abzusichern, und zwar bei erheblicher Unterschätzung ihres eigentlichen Werts. Grünebaum argumentierte vor dem Magdeburger Landgericht, dass das Geld eine reguläre Gegenleistung für seine Tätigkeit als Rechtsberater gewesen sei. Er gab aber zu, dass diese Tätigkeit nicht mit seiner Arbeit als regionaler Treuhand-Direktor vereinbar gewesen sei – was im Frühjahr 1992 zu einem Aufhebungsvertrag zwischen der Treuhand und Grünebaum geführt hatte. Das Landgericht Magdeburg sah eine korruptive Zusammenarbeit Vulcanos und Grünebaums als erwiesen an; später hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil allerdings wieder auf. Der vormalige Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt, Volker Limburg, gab im Interview mit dem dänischen Journalisten Burcharth zu Protokoll, dass „nach unseren Untersuchungen Vulcano zu den Kreisen der Mafia gehörte“. Diese Anschuldigung wurde von Vulcano zeitlebens zurückgewiesen und konnte auch nie gerichtsfest bewiesen werden. Anders als in Italien gab und gibt es in Deutschland allerdings auch keine strafrechtliche Definition einer kriminellen Vereinigung nach Art der Mafia. Vulcanos Firma wird heute von seinen Erb*innen weitergeführt.
Mafien als Herausforderung für die Zivilgesellschaft
Der Mauerfall 1989 muss als Wendepunkt für die Etablierung von mOK-Strukturen in Deutschland angesehen werden. Auch vorher waren Mafia-Gruppen in Westdeutschland tätig gewesen; doch durch die Möglichkeiten in den neuen Bundesländern erreichte ihre Verwurzelung in Deutschland ein neues, strukturell verankertes Niveau. Dabei wurden die italienischen Mafien in Deutschland auf die gleiche Weise heimisch wie in Norditalien: durch die Unterstützung und strukturelle Zusammenarbeit mit Einheimischen in einer Grauzone, die üblicherweise mit der Zeit integraler Bestandteil der mOK-Strukturen wird. Die ursprünglich italienischen mOK-Gruppen sind jetzt auch deutsche.
Expert*innen sind sich einig über die Gefahr antidemokratischer mafiöser Mentalität: Sie existiert überall und kann nicht allein durch Festnahmen oder die Beschlagnahmung von Vermögenswerten besiegt werden. Schon der 1992 ermordete sizilianische Ermittlungsrichter Giovanni Falcone wusste um die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft bei der erfolgreichen Bekämpfung der Mafien, das gilt auch für Deutschland:
„Zurzeit ist es für die Zivilgesellschaft von essenzieller Bedeutung, dass die Erscheinungsformen der Mafia durch ihre Isolation auf den Kern eines kriminellen Phänomens zurückgeführt werden. Die unnatürlichen und tiefen Verbindungen des Phänomens, die es der Mafia erlaubten, zu infiltrieren, zu beschmutzen, zu korrumpieren, müssen beschnitten werden. Erst dann, wenn alle es wie einen Fremdkörper wahrnehmen, wird man es besiegen können.“