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„Wenn Razzien zum medialen Selbstzweck werden – das freut den Mafiaboss“

Der Journalist und Autor Mohamed Amjahid arbeitet zu Empowerment und Antirassismus in Deutschland und Europa. Außerdem liefert er kritische Analysen zu deutschen Sicherheitsbehörden. 2021 erschien sein vielbeachtetes Buch Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken.


echolot: sprach mit Mohamed Amjahid über Rassismus im Kontext von mOK.


echolot: Wenn Sie das Wort mafiöse Organisierte Kriminalität (mOK) hören, woran denken Sie da? Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf oder Gedanken dazu?


Mohamed Amjahid: Ich denke zuerst an gewisse Filme und Serien, also an Kulturproduktionen, die damit spielen. Das ist ja ein bisschen ein Lifestyle geworden, der in die Popkultur und in Konsum übersetzt worden ist. Aber wir wissen alle, dass Organisierte Kriminalität, dass mafiöse Strukturen ein großes Problem darstellen, auch aus einer übergeordneten europäischen Sicht.


Wenn ich mir das Problem auf Deutschland bezogen anschaue: In dem Augenblick, in dem ich als Journalist über Menschenhandel schreibe, habe ich es natürlich auch mit mafiösen Strukturen zu tun. Beim sogenannten Menschenschmuggel wird es ein wenig komplizierter. Da gibt es zum einen tatsächlich mafiöse Strukturen, die Menschen ausnutzen, Arbeiter*innen zum Beispiel oder Sex-Arbeiter*innen; das ist ein großer Markt. Es gibt aber zum anderen die Komponente der Flucht, zum Beispiel über das Mittelmeer, wo auch kriminelle Strukturen eine Rolle spielen. Diese verwerten die Verzweiflung der Geflüchteten: „Wir können Dir dabei helfen, das Mittelmeer zu überqueren, dafür musst Du halt 3 000 Euro zahlen.“ Dazu ist anzumerken, dass für Matteo Salvini, die AfD oder auch Herrn Seehofer auch die Retter*innen auf dem Mittelmeer zu den mafiösen Strukturen zählen. Solche Situationen muss man wirklich genau aufdröseln, das muss man sich ganz differenziert angucken.

echolot: Das ist die Definition von mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK), mit der wir arbeiten: „Unter mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK) versteht man strukturierte Gruppen, deren Macht auf einer Verschränkung von Faktoren aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, sowie krimineller Gewalt beruht. Dadurch erreicht ihre bloße Existenz eine individuell und gesellschaftlich einschüchternde Macht, die auch durch kulturelle Codes unterstützt und projiziert wird.“

Inwiefern stimmen Sie dieser Definition zu oder nicht zu, und warum?

Mohamed Amjahid: Ich halte das tatsächlich für eine gute Definition. Sie ist breit aufgestellt und basiert nicht auf dieser Dichotomie zwischen „der gute Staat“ und „die böse Kriminalität“. Bei meinen Recherchen sehe ich oft das Problem, dass man versucht ist zu denken, dass man das gut trennen könne. Dabei weiß ich: Es gibt Übergänge und Kontinuitäten, die auch klar als solche erkennbar sind.

Zurück zu den popkulturellen Referenzen: Dort sehen wir oft, dass irgendein Staatsanwalt oder ein Polizeibeamter auftaucht, der irgendwie mitmacht und korrupt ist. In den Plots von Filmen ist das immer ein Einzelfall. – Dabei ist das in Wirklichkeit viel struktureller, als man denkt. Deswegen ist „organisiert“ ein total wichtiges Wort, das man auch ernst nehmen muss. Das sind tatsächlich organisierte Menschen. Es gibt da diese französische Netflix-Serie Marseille. Sie ist quasi ein Porträt der Mafia in Marseille und zeigt, welche Beziehungen sie hat: bis hin zum Bürgermeister der Stadt, bis hin zur rechtsextremen politischen Kraft in der Stadt usw. So muss man es aufdröseln.

Auch der Begriff „kulturelle Codes“ ist total wichtig. Es macht einen qualitativen Unterschied für sehr viele Entscheidungsträger*innen der Innenpolitik und auch in den Medien, welche kulturellen Codes anwendet werden. Sind es die sogenannten „arabischen Clans“? – Dann ist es eine schlimme Sache: Wie kann man in Berlin Neukölln überhaupt sicher die Straße überqueren?! Wenn es hingegen um die eine italienische Mafia-Gruppe in Duisburg oder sonst wo geht, wird sie nicht so stark kulturalisiert. – Oder nicht mehr? In der langen Geschichte der sogenannten Gastarbeiter*innen gab es auch Feindschaft gegenüber Italiener*innen, klar; das wird jetzt aber anders kontextualisiert. Bei manchen projizierten kulturellen Codes wird die Gefahr sofort als größer angenommen als bei anderen. Aus meinen Recherchen weiß ich, dass es für die Polizei in einigen Bundesländern reicht, wenn ein als „Araber“ wahrgenommener Mensch in einem BMW sitzt; der Polizist fragt sich dann: „Wie kann er sich den überhaupt leisten?“ Das ist für ihn schon ein Zeichen für „Clankriminalität“. So etwas halte ich übrigens für kontraproduktiv im Kampf gegen Organisierte Kriminalität.

echolot: Inwiefern würden Sie mOK mit Männern* und Frauen* in Verbindung bringen? Gibt es Phänomenfelder von mOK, die Sie eher Frauen* oder Männern* zuordnen würden?


Mohamed Amjahid: Das ist eine interessante Frage. Man kann sicherlich die Themenfelder nicht gendermäßig aufteilen. Grundsätzlich sollte Kriminalität in vielerlei Hinsicht als ein patriarchales Problem analysiert werden. Wenn man sich die Daten aus unterschiedlichen Themenfeldern anguckt – Drogenhandel, Menschenschmuggel, Hehlerei etc. –, kommen Männer ganz häufig vor. Wir müssen in unserer Gesellschaft über Männlichkeit reden. Aber wenn man in die Statistik oder in die qualitativen Erzählungen guckt, findet man auch Frauen. Das wäre ja auch seltsam, wenn man denken würde: „Frauen sind bessere Menschen und gar nicht vertreten.“ – Doch, sie sind vertreten, aber auf andere Art und Weise. Ich könnte keinen Bereich nennen, in dem ich nur Männer oder nur Frauen am Werk sähe. Zum Beispiel spielen Frauen auch im Bereich der Zwangsprostitution eine wichtige Rolle, indem sie Prostituierte unter Druck setzen etc. Man muss darüber, über diesen Druck, reden, um die Bedingungen für Sexarbeiter*innen sicherer zu machen. – Es gibt schließlich auch Personen, die Sexarbeit quasi als Lohnarbeit machen, aus freien Stücken. Wir müssen eine gesellschaftliche Diskussion über toxische Männlichkeit führen; die führt nämlich dazu, dass Gewaltanwendung als legitimes Mittel angesehen wird.

echolot: Wenn Sie nun die Betroffenen von mOK betrachten, sehen Sie da mehr Frauen* oder mehr Männer*?


Mohamed Amjahid: Dazu habe ich keine Statistiken vorliegen, deshalb kann ich zur Gender- Zuordnung wenig sagen. Erst mal müssen wir darüber sprechen, wie wir „Betroffene“ verstehen. Erstens gibt es die Gruppe der direkt von Organisierter Kriminalität Betroffenen. Dazu zählen Geflüchtete, die in die Fänge organisierter Gruppen geraten, die sie über Grenzen schmuggeln wollen. Wenn die EU oder einzelne Staaten die existierenden rechtlichen Ansprüche dieser Menschen missachten, werden sie in die Hände organisierter Gruppen getrieben. Wenn Menschen in Bosnien sitzen, und es hat minus 14 Grad und Ursula von der Leyen will sie nicht reinlassen, und da gibt es eine kriminelle Bande, die zwischen Bosnien und Kroatien operiert – dann hat man im Grunde keine andere Wahl, als mit diesen Gruppen zu kooperieren. Diese Menschen sind direkt von Organisierter Kriminalität betroffen; ich vermute nicht, dass es hier an sich eine Gender-Imbalance gibt.

Zweitens sehe ich eine Betroffenengruppe, die über die Schiene Stigmatisierung, Rassismus vonseiten der Mehrheitsgesellschaft und der Sicherheitsbehörden entsteht. Da würde ich meinen, dass tatsächlich vor allem junge rassifizierte Männer betroffen sind, vor allen Dingen, wenn es um sogenannte arabische „Großfamilien“ und „Clans“ geht. Bei mir melden sich viele junge Männer, die keine Ausbildungsplätze mehr bekommen, die von der Polizei beobachtet werden, die einfach im Alltag diskriminierende Erfahrungen machen – allein weil sie einen bestimmten Familiennamen tragen oder weil sie aussehen, wie sie aussehen. Das hat damit zu tun, dass medial – aber auch im Bundestag von einer Alice Weidel – von „Arabern“ gesprochen wird, die irgendwie Deutschland schon übernommen hätten.

Das hat Auswirkungen auf Menschen, zum Teil spüren sie schon in der Grundschule, dass sie abgeschrieben werden von Lehrer*innen, von Mitschüler*innen. Das ist ein sehr altes Phänomen, seit Sarrazin ist es stärker sichtbar geworden. Darüber muss mehr gesprochen werden. Durch Recherchen konnte ich belegen, dass es auch Folgen für die Methodik der Sicherheitsbehörden hat. Wir müssen uns mit Racial Profiling befassen! Wenn du den Familiennamen XY trägst und der Innenminister irgendeines Bundesland sagt, das sei „eine kriminelle Familie“, dann kannst du es auch gleich lassen. In kleineren und mittleren Städten, wo man sich kennt, zeigt man mit dem Finger auf ein Haus und sagt: „Die haben diesen und jenen Nachnamen!“ Wenn in Berlin irgendwo zum fünften Mal eine Polizeirazzia durchgeführt wird, führt das ebenfalls zu Stigmatisierungen. Wenn ich im Nachhinein bei der Polizei nachfrage, ob sie denn mal was gefunden haben, und die Antwort auch nach der fünften Razzia „nichts“ lautet, empfinde ich das schon als etwas komisch ...

echolot: Kommen wir nun zu verschiedenen Branchen oder Wirtschaftszweigen. Wo würden Sie mOK besonders einordnen, wo weniger? Und wieso?


Mohamed Amjahid: Ich glaube, mOK findet sich wirklich in allen Branchen, ich kann mir das gar nicht anders vorstellen. Mir wurde kürzlich davon erzählt, dass es im Gemüsehandel Menschenschmuggel gebe, dass junge Menschen von organisierten kriminellen Banden aus Vietnam importiert würden und nun hier irgendwo säßen. Die müssen also entweder für einen Hungerlohn oder gar keinen Lohn arbeiten, ihnen wird gesagt: „Ihr müsst halt eure Schulden abarbeiten.“ – Und das hier in Berlin. Vielleicht werden sie auch weitergegeben über Brüssel und dann nach Großbritannien. Vor einem Jahr ist dieses Verbrechen passiert: Viele Menschen sind in einem Lkw erstickt. Ich habe den Eindruck, dass es mOK-Strukturen in sehr vielen Branchen gibt, auch etwa in der Baubranche.

Beim Thema Organisierte Kriminalität denken wir schnell an so „dunkle Gestalten“. Und es stimmt auch, dass viele organisiert arbeitende Kriminelle dunkle Gestalten sind und diese Klischees erfüllen. – Aber ist nicht eigentlich auch so etwas wie Wirecard mafiöse Organisierte Kriminalität? Falls nicht: Warum eigentlich nicht? Ich habe nicht selbst zum sogenannten Wirecard-Skandal recherchiert. Aber ich lese viele Texte in den Medien dazu und frage mich, was das denn anderes sein soll als mafiöse Organisierte Kriminalität. Da hat jemand über Jahre ein Netzwerk aufgebaut, anscheinend auch bis in die politischen Entscheidungssphären hinein. Warum haben Banken mitgemacht, wieso konnten involvierte Personen rechtzeitig fliehen? Das kann doch nicht sein: dass man drei Milliarden Euro verschwinden lassen und Buchungen erfinden kann – und am Ende wird gesagt, es gebe kein kriminelles Netzwerk! Ich denke, dass Wirecard Eure Definition erfüllt.

echolot: Würden Sie sagen, dass Ihre eigene Branche – Journalismus und Medien – unabhängig und frei ist? Oder wird sie von bestimmten Leuten, Gruppen oder Netzwerken kontrolliert oder dominiert?


Mohamed Amjahid: Es gibt natürlich nicht „die Medien“; das gefährliche Narrativ der „Lügenpresse“ setzt auf eine solche angebliche Einheitlichkeit. Dabei gibt es eine ganze Bandbreite verschiedener Produktionssysteme in der Medienbranche. Zwänge gibt es natürlich auch in Redaktionen, etwa finanzielle Zwänge, oder wenn ein Chefredakteur gut befreundet ist mit einem wichtigen Unternehmer. Deswegen ist aus journalistischer Sicht die Unterschiedlichkeit der Strukturen, was Abhängigkeit oder Unabhängigkeit betrifft, so wichtig. Hier in Deutschland können wir gesellschaftlich schon darauf setzen, dass irgendwo irgendeine Redaktion ein wichtiges Thema als relevant definiert und dann auch bearbeitet. Im europäischen Vergleich, in Ungarn zum Beispiel, kann man leider gut sehen, was die mafiöse Verschränkung von politischen Machtsphären und Organisierter Kriminalität und Oligarchie mit einer Medienbranche machen kann. Auch Italien scheint etwas problematisch in dieser Hinsicht.

Auf der individuellen Ebene bleibt die Frage, wie man sich im Medienbetrieb von entsprechenden Zwängen frei machen kann, so gut es geht – ob fest angestellt oder frei. Ich habe vor mehr als drei Jahren angefangen, kritisch zur Polizei zu recherchieren. Die Ressortleitung hat das damals hinterfragt, nach dem Motto: „Warum machst du das? Das sind doch die Guten, das sind unsere Freunde.“ Vielleicht hat das mit den schon erwähnten popkulturellen Stereotypen zu tun: Wenn man zu viel 4 Blocks geguckt hat, denkt man am Ende vielleicht, dass die Polizei die Guten und „die Araber“ die Schlechten seien und dass man alles investieren müsse, um diese Art von Organisierter Kriminalität aufzudecken. Klar kann und sollte man solche Recherchen machen – ich bin ja nicht naiv und behaupte, dass es keine kriminellen, arabisch gelesenen Menschen gebe. Aber wenn das bereits gefühlt 99 von 100 Kolleg*innen machen, dann kümmere ich mich doch um die andere Seite! Journalismus hat die Aufgabe, als Korrektiv zu fungieren.

Ich glaube, dass genau deswegen auch Ihre Arbeit wichtig ist als Input: Viele Kolleg*innen beschäftigen sich mit mafiöser Organisierter Kriminalität, aber können sie noch nicht mal definieren. Da würde ich mir manchmal wünschen, dass sie sich wissenschaftliche Arbeiten angucken – oder die echolot:-Studie lesen!

echolot: Gibt es Berliner Bezirke, die Sie eher mit mOK in Verbindung bringen würden als andere?


Mohamed Amjahid: Also städtische Räume? Ich halte es für absoluten Schwachsinn, das in Bezirke aufzuteilen. Nur weil in gewissen Bezirken die Armut sichtbarer ist, bedeutet das erst mal nichts für die (mafiöse) Organisierte Kriminalität. Zu sagen: „In Neukölln gab es wieder eine Razzia, also ist da die ‚Clankriminalität‘ beheimatet“ – das ist einfach naiv! Wenn ich in der Organisierten Kriminalität bin, werde ich doch nicht an der Bezirksgrenze haltmachen – „Ne, weiter fahre ich nicht, denn das ist nicht mehr Neukölln, sondern schon Kreuzberg“?!

Es ist grundsätzlich zu kurz gedacht, zu glauben, dass Kriminalität vor irgendeiner Grenze Halt machen würde. Schauen wir uns zum Beispiel Zwangsprostitution und Menschenschmuggel an. Gerade im Prenzlauer Berg ist es einfach, in einem Apartment Zwangsprostituierte zu halten:

Keiner kommt [zur Kontrolle] vorbei, denn die Gegend ist nicht stigmatisiert. Ich kenne den Fall eines Haus dort, in dem genau das passiert ist. Das ist nur aufgeflogen, weil sich Betroffene gemeldet haben – was an sich ein Wunder ist, denn sie mussten Angst haben, deshalb verletzt oder sogar getötet zu werden von den mOK-Leuten.

Ich finde es immer ein wenig albern, wenn populistische Autor*innen sich vornehmen: „Ich schreib’ jetzt das megakrasse Skandal-Buch über Neukölln oder Duisburg-Marxloh“, oder was weiß ich. Das ist populistisch, meist auch rassistisch und oft genug rechtsextrem. Und es dient nicht dem Sicherheitsaspekt, das halte ich für den größten Denkfehler dabei. Wenn man auf einen bestimmten Bezirk draufhaut und den stigmatisiert, dann hilft man damit den mOK-Gruppen. Die wollen doch gerade so dargestellt werden wie in Serien wie 4 Blocks; die wollen die Schlimmen sein; die wollen mit einem Reporter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mitlaufen und sagen können: „Hier, das ist meine Straße, und ich kille alle und hier darf man nichts machen, was ich nicht will.“ Die wollen genau dieses Image haben – und tatsächlich hilft man ihnen so, ihre Autorität aufzubauen.

echolot: Inwiefern glauben Sie, dass der Zusammenhalt eines Kiezes oder einer Straße mOK-Strukturen abschrecken oder verhindern kann?


Mohamed Amjahid: Ich glaube, dass das möglich ist, und es ist total wichtig. Ohne mich mit Italien genau auszukennen, weiß ich doch, dass es dort viele Initiativen gegen mOK gibt, querbeet durch die ganze Gesellschaft. Wenn ich höre, wie sich dort einzelne Priester, Journalist*innen und Nachbarschaftsinitiativen zusammentun gegen die mOK, dann stelle ich eine Emanzipation von Strukturen, die die Menschen über Jahrzehnte eingeschüchtert haben, fest. Das ist in Italien nicht vom Himmel gefallen, und es existiert auch nicht erst seit vorgestern. Ich glaube daran, dass es möglich ist, zivilgesellschaftlich organisiert gegenzuhalten. Das sehe ich auch in diesen stigmatisierten Bezirken, über die wir gerade gesprochen haben, etwa in Berlin-Neukölln. Da gibt es Kleinunternehmer*innen, die sich dagegen wehren, an mOK-Gruppen Zwangsgelder abzudrücken; gleichzeitig wehren sie sich gegen eine stattfindende Stigmatisierung. Die Leute im Kiez haben gemerkt, dass es wichtig ist, sich zu organisieren: einerseits, um sich zu emanzipieren von den mOK-Leuten; andererseits, um sich zu verteidigen gegen rassistische Diskurse.

echolot: Was kann man Ihrer Meinung nach tun, um Menschen gegen Einschüchterung oder Angst zu stärken? Was könnten betroffene Frauen* und Männer* brauchen?


Mohamed Amjahid: Empowerment beginnt mit Organisation, und dann braucht es Ressourcen. Während der Corona-Zeit ist einiges schwieriger, aber grundsätzlich ist die Bereitstellung von Räumen sehr wichtig und von Geldern, außerdem Know-how und Workshops: Wie kommuniziert man gut nach außen, wie kann man einen guten Internetauftritt und Social-Media-Arbeit machen? Wie kann man die Situation analysieren in einem bestimmten Kiez oder einem bestimmten Bezirk? Auch Beratung ist wichtig: etwa zu den Möglichkeiten, sich auf staatlichen Wegen gegen Diskriminierung einzusetzen, sich bei bestimmten Behörden zu beschweren etc. Ich bin da zwar skeptisch, aber man sollte jeden Weg ausprobieren. Bildungsarbeit ist ebenfalls wichtig. Es geht darum, den Leuten Ressourcen anzubieten und zu schauen, was sie damit machen können. Zentral ist immer: Selbstorganisation und möglichst viel Unabhängigkeit.

echolot: In der medialen Berichterstattung wird häufig von kriminellen „Clans“ mit viel Macht gesprochen. Was halten Sie davon? Sehen Sie das ähnlich oder anders?


Mohamed Amjahid: Ich glaube schon, dass es gewisse organisierte Gruppen gibt, die aus miteinander verwandten Personen bestehen, die miteinander kooperieren und mit kulturellen Codes arbeiten. Solche Gruppen muss man sich anschauen, aber dabei muss man natürlich genau differenzieren. Nur weil man einen bestimmten Nachnamen hat, bedeutet dies, erstens, nicht, dass man mit allen anderen, die diesen Nachnamen tragen, auch verwandt ist. Sonst hätten wir eine riesige Familie Müller, Schmidt oder Metzger, und wie sie alle heißen. Zweitens bedeutet miteinander verwandt sein nicht unbedingt, dass man sich kennt. Das ist der Knackpunkt.

Außerdem muss man sich bei den einzelnen Fällen die qualitative Art der Kriminalität anschauen. Ich weiß zum Beispiel, dass in einem Bundesland der Besitz von Schusswaffen genauso in die sogenannte Clanstatistik einfließt, wie wenn ein Jugendlicher mit entsprechendem Nachnamen einen Schokoriegel im Bahnhofskiosk klaut. Beides steht qualitativ gleichwertig in der Statistik: eine Schusswaffe neben einem geklauten Snickers. Wird nicht dadurch die Statistik verfälscht und ein Problem aufgebauscht? Ich finde es nicht so gut, wenn jemand ein Snickers klaut. – Aber wir laufen so Gefahr, nicht mehr auf die wirklich harten Sachen zu gucken, bei denen es um die Gesundheit von Menschen geht – wie beim Verkauf gepanschter Drogen –, um Leben und Tod. Ein realistisches Bild von Organisierter Kriminalität bzw. mOK hilft dabei, diese Formen der Kriminalität zu bekämpfen. Ich würde mir wünschen, dass man da qualitativ besser draufguckt.

echolot: Wie verhältnismäßig oder unverhältnismäßig finden Sie vor diesem Hintergrund denn die Berichterstattung zur einschüchternden Macht sogenannter „Clans“?


Mohamed Amjahid: In Niedersachsen habe ich mir mal drei Jahre Berichterstattung über sogenannte „Clans“ angeguckt, vor allem in der Regionalpresse, aber auch im öffentlich- rechtlichen Rundfunk. Mit Erschrecken habe ich festgestellt, dass sehr oft Polizeimeldungen einfach mittels Copy-and-paste übernommen worden waren. Das ist kein guter Journalismus. Und leider pfeifen ganz viele Kolleg*innen und Redaktionen auf den Pressekodex: Sie nennen die Nationalität oder ethnische Bezüge, ohne dass es der Geschichte einen Mehrwert gäbe. Für jede gedruckte Polizeimeldung über Ich möchte hier noch einmal auf die Wirkmächtigkeit popkultureller Codes zurückkommen. In den audiovisuellen Medien haben sich viele Kolleg*innen von Serien wie „4 Blocks“ inspirieren lassen. Sowohl private Produktionsfirmen, die für große Sender produzieren, als auch das öffentlich- rechtliche Fernsehen machen nun Dokumentationen, die fast eins zu eins das Skript dieser fantasievollen Serien erfüllen. – Ich bin durchaus für Kunstfreiheit, aber Journalismus ist doch etwas anderes.

echolot: Wenn Sie hinsichtlich der Herangehensweisen zur Bekämpfung von mOK- Strukturen etwas ändern könnten, was wäre es?


Mohamed Amjahid: Da bin ich ein bisschen zurückhaltend, denn den großen Reformplan habe auch ich nicht in der Schublade. Fangen wir mal an mit den Sachen, die vermieden werden sollten: jede Art stigmatisierender, kulturalisierender, rassistischer Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden, die momentan über Parteigrenzen hinweg transportiert wird. Es gibt keine Partei in deutschen Parlamenten, die von diesen Stereotypen nicht Gebrauch gemacht hat in der Vergangenheit. Im Landtag von Niedersachsen habe ich versucht, politische Ansprechpartner*innen zu finden – und habe keine gefunden. Alle, die in diesem Landesparlament vertreten sind, waren in den vergangenen Jahren auf die eine oder andere Art und Weise involviert in die Entscheidungsfindung dazu, wie gegen Organisierte Kriminalität vorgegangen wird. Bei allen Unterschieden zwischen den Parteien habe ich gemerkt, dass sie alle rassistische Muster mindestens toleriert oder eben gar bewusst gefördert haben. Ich halte es für wichtig, bei den Sicherheitsbehörden methodisch Tabula rasa zu machen: neu zu denken und gesellschaftlich zu schauen, dass nicht alles „sicherheitspolitisiert“ wird.

Klar ist: Immer wenn rassistische Stereotype bedient werden, spielt dies denen in die Hände, die wirklich mafiös-kriminell organisiert sind. Dann werden nämlich deren Netzwerke und Strukturen weniger angeschaut. Stattdessen landet ein rassistischer Diskurs in der x-ten Talkshow, beim nächsten Bundestagswahlkampf kommen wieder die rassistischen Plakate, und beim eigentlichen Thema der mOK hat sich nichts getan; nichts ist gewonnen.

echolot: Können Polizeirazzien Betroffenen von mOK ein Sicherheitsgefühl geben – also einschüchternde Macht von mOK reduzieren? Oder wird sie durch Razzien eher bestärkt?


Mohamed Amjahid: Ich denke, es sollte weniger um Polizeirazzien gehen und mehr darum, dass die Sicherheitsbehörden anfangen, den Betroffenen wirklich ernsthaft zuzuhören. Wenn Razzien rassistische Diskurse bedienen, glaube ich, dass sie den Betroffenen mehr schaden als helfen. Die Nachbarschaften sind genervt, weil einmal im Monat die Straße gesperrt ist und der Bus nicht durchkommt. Wenn sie sehen, dass immer auch eine Kamera dabei ist und dass dafür gespielt wird, merken sie zudem, dass es nicht darum geht, die Kriminalität zu bekämpfen. Wenn Razzien zum medialen Selbstzweck werden – das freut den Mafiaboss.

Es gibt viel zu wenige Studien dazu, wie die Polizei bei mOK arbeitet. Sie müsste ja nicht ihre Taktiken transparent machen, sodass irgendwelche Mafiabosse sie im Internet nachlesen könnten. Vielmehr geht es doch darum, zu schauen: Wie kann man noch effektiver arbeiten? Wo gilt es diskriminierende Sichtweisen abzuschalten?


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